Harzletter, der Einhundertneunte.
Als wir im Nationalpark vom Glashüttenweg nach rechts abbiegen in den Moorstieg, wird es malerisch, ein bisschen schaurig, aber auch beschwerlich. Die breite „Forstautobahn“ wird zu einem schmalen Fußweg mit reichlich dicken Steinen. Man muss bei jedem Schritt achtgeben, sich stellenweise einen Weg durch die Gesteinsbrocken suchen. Jetzt verstehe ich, warum diese Ranger-Führung auf der Webseite des Nationalparks als „sehr anspruchsvolle Tour“ angekündigt wurde. Mountainbiker sind hier längst nicht mehr unterwegs.
„Der Weg des Wassers – unterwegs mit dem Ranger“ heißt diese kostenlose Wanderung durch den Nationalpark; ein Weg, der von Drei Annen Hohne aus sanft aber stetig bergauf bis zur Leistenklippe führt. Am Ende sind wir knapp fünf Stunden unterwegs und legen dabei rund acht Kilometer zurück.
Freddy Müller ist begeisterter Nationalpark-Ranger, das spürt man sofort. Schon zu DDR-Zeiten hat er als gelernter Forstfacharbeiter in den Harzwäldern gearbeitet, seit 2007 ist er als Ranger beschäftigt. „Am Anfang war es ungewohnt“, erzählt er, „ich musste mich in diese Führungen erst reinfinden.“
600 Jahre alte Eiche im Nationalpark
Ein paar Hundert Meter, nachdem unsere kleine Gruppe in Drei Annen Hohne losmarschiert ist, schon ein erster Stopp auf einer Bergwiese. Eine offensichtlich uralte Eiche steht dort allein und eingezäunt. Freddy Müller lässt uns schätzen, das tatsächliche Alter von rund 600 Jahren tippt niemand. Und sofort sieht man den mächtigen, aber auch stark angeschlagenen Baum mit anderen Augen. In der Natur gelten offensichtlich andere Zeitbegriffe.
Im Weitergehen lernen wir Baum-, Beeren- und vor allem Pilzarten kennen. Von Erlen und Eschen hat jeder schon einmal gehört, aber wer weiß schon, wie die aussehen. Freddy Müller zeigt sie uns und erläutert gleich dazu, dass beispielsweise die Erle ein Feuchtigkeitsanzeiger ist. Wo sie steht, ist Wasser nicht weit. Wieder was gelernt.
So richtig zur Hochform läuft unser Nationalpark-Guide auf, als am Wegesrand die ersten Fliegenpilze auftauchen. Sofort halten wir an, und es folgt ein längerer Vortrag, warum der Fliegenpilz so heißt wie er heißt. Und da sowieso gerade Pilzzeit ist und das Wetter eher feucht, gibt es natürlich reichlich weitere Arten zu entdecken und zu begutachten. In nachhaltiger Erinnerung geblieben ist mir der Hallimasch, ein eher unscheinbarer ockerfarbener Pilz, den man auf abgestorbenen Bäumen sieht. Eine seiner Arten ist in Oregon/USA als zusammenhängendes System über mehrere Quadratkilometer verbreitet und gilt als das größte Lebewesen überhaupt.
Wasser ist im Nationalpark immer ein Thema
Doch dann kommt endlich das Wasser. Die Umgebung des Brocken ist eins der niederschlagsreichsten Gebiete Deutschlands; Wasser ist hier immer ein Thema. Jeder kennt die zahlreichen Teiche und Seen innerhalb und außerhalb des Nationalparks, das Oberharzer Wasserregal ist ein Begriff, aber vom Wormsgraben hatte ich noch nie gehört. Der wurde bereits im Mittelalter angelegt, verläuft entlang des Glashüttenwegs und mündet in den Zillierbach. Ursprünglich diente er dazu, den Mühlen entlang des Baches genügend Wasser zuzuführen. Wir queren den Graben und folgen dem Glashüttenweg vorbei am Trudenstein Richtung Erdbeerkopf.
Freddy Müller weist uns auf die nachwachsenden Bäume hin – auch in diesem Gebiet hat der Borkenkäfer in den vergangenen Jahren ganze Arbeit geleistet. Jetzt wird die Natur dort mehr oder weniger sich selbst überlassen, und es überrascht selbst den Ranger, wie schnell sie sich das Nationalpark-Gebiet zurückerobert. „Hier wächst ein Mischwald, wir werden noch erleben, dass die Bäume uns wieder Schatten spenden“, so Freddy Müller.
Nach und nach soll dort, wo wir unterwegs sind, ein Urwald entstehen, doch bis dahin wird es noch viele Jahre dauern. Ein Wolfsrudel hat sich bereits angesiedelt, auch die Tiere erobern den Lebensraum Harz zurück.
Dann geht es zum eigentlichen Ziel unseres Rundgangs, dem Moor auf dem Weg zur Leistenklippe. Der Anstieg führt auf besagtem Moorstieg erst zwischen Steinen hindurch und wird dann zu einem Bohlenweg. Der ist zur Abwechslung mal leicht zu gehen und die Vegetation verändert sich: Die Artenvielfalt nimmt spürbar ab, vorherrschend sind jetzt Pflanzen, die die moorige Umgebung lieben. Freddy Müller erklärt, welche Unmengen von Wasser hier gespeichert werden und nach und nach als Rinnsale und Bäche zu Tal fließen. Es deutet auf eine Venusfliegenfalle, ein unscheinbares Pflänzchen mit leicht berüchtigtem Hintergrund.
Überhaupt das Moor: Es gibt kaum Lebensräume, die so viele Ängste und Befürchtungen auslösen. Aber wir werden gleich beruhigt – wirklich untergehen kann man hier nicht; tiefer als bis zur Taille würde man im Ernstfall nicht einsinken. Aber auch diese Information erzeugt schon ein leichtes Schauern, passend dazu kommen wir in den Bereich der tiefhängenden Wolken. Moorlandschaft im leichten Nebel – fast schon ein Grusel-Klassiker.
Zum Glück ist es nicht mehr weit bis zur Leistenklippe. Die liegt genau 901 Meter hoch und sieht aus wie ein Haufen großer Steine, den ein Riese vor langer Zeit ausgekippt hat. Man kann ahnen, warum es im Harz von Sagen, Spukgeschichten und phantastischen Erzählungen nur so wimmelt. Wer hier – möglichst im Nebel oder in der Dämmerung – unterwegs ist, muss fast zwangsläufig auf seltsame Gedanken kommen.
Oben auf der Klippe kann man, wie so oft im Harz, nur in den Nebel schauen. Aber das macht nichts, es passt zur herbstlich moorigen Umgebung. Nach ein paar Erläuterungen zur Vegetation und weiteren Pilz-Entdeckungen geht es zurück zu unserem Nationalpark-Ausgangspunkt.
Wir gehen den schmalen Von Eichendorff-Stieg entlang, rechts und links gelbliches Gras, ein paar Bäumchen, fast unberührte, feuchte und dampfende Natur. Einfach nur stimmungsvoll. Das letzte Stück führt über die ehemalige Skipiste von Drei Annen Hohne – man kann noch sehen, dass hier irgendwann einmal Wintersport stattfand.
Zum Schluss noch einmal Freddy Müller: „Der Harz verändert sich gerade ziemlich schnell. Und zwar zum Positiven. Im kommenden Jahr wird es dort, wo wir lang gegangen sind, schon wieder ganz anders aussehen. Kommen Sie wieder vorbei – wir Ranger zeigen Ihnen gern, was dort draußen passiert.“
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Vergangene Woche ging es um einen Harz-Reiseführer von 1890.
Und davor machten wir einen Ausflug mit den Eisperlen zum Ditfurter See.
Hier war ich auf Wandertour im Selketal.
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Auf Instagram findet der Harzletter auch statt: www.instagram.com/harzletter.de/