Harzletter, der Einhundertachte.
Eigentlich sollte es hier und heute um eine Wanderung von Drei Annen Hohne rauf zur Leistenklippe gehen – aber dann landete ein spezieller Reiseführer in meinem Briefkasten, und jetzt findet die Wanderung halt erst im nächsten Harzletter statt. Soviel sei verraten: Es geht dort auch um Moore und reichlich Fliegenpilze.
Die Geschichte mit dem Reiseführer – der natürlich kein normaler Reiseführer ist, sondern einer von 1890 – geht so: Aufgrund meiner Heine-Harzreise-Berichte in der Braunschweiger Zeitung meldete sich jemand aus Wolfsburg und bat um Rückruf, die Kontaktdaten wurden mir weitergeleitet.
Es ergab sich ein sehr unterhaltsames und interessantes Telefonat unter anderem über lange zurückliegende Harzwanderungen, und im Laufe des Gesprächs meinte besagte Zeitungsleserin, sie hätte noch einen sehr alten Harzreiseführer im Regal stehen, den sie nicht mehr brauche und ob ich …
Der besondere Reiz alter Reiseführer
Na klar, sowas interessiert mich immer. Alte Reiseführer haben einen ganz besonderen Reiz. Zum einen kann man gut erkennen, was sich landschaftlich verändert hat, welche Ziele interessant sind und waren. Hinzu kommen Preisangaben, Empfehlungen, Beschreibungen von Land und Leuten. Es ist ein authentischer Blick zurück in eine andere Zeit.
Hinzu kommt die Machart: Früher wurde gar nicht oder sehr sparsam mit Fotos gearbeitet, die Texte waren ausführlicher, oft umständlicher und viel detaillierter. Heute wirken sie stellenweise unfreiwillig komisch.
Was also nach ein paar Tagen bei mit ankam, war Band 2 aus „Griebens Reise-Bibliothek“: Der Harz. Praktisches Handbuch für Reisende. Von 1890. Man stelle sich vor: Deutschland war erst 18 Jahre lang ein vereinigtes Land, Wilhelm Zwo war Kaiser, Bismarck reichte seinen Rücktritt ein, der Erste Weltkrieg war noch über zwanzig Jahre entfernt – und die Menschen reisten in Massen in den Harz.
Alles hat sich seitdem verändert; oder eben auch nicht. Denn die Harzkarte, die diesem Reiseführer beiliegt, könnte man fast heute noch benutzen: Die Größe der Orte ist nahezu gleich geblieben, es gab keine Autobahnen und Bundesstraßen, das Eisenbahnnetz war noch im Aufbau (einige Strecken von damals sind heute wieder stillgelegt).
Der Harz war ziemlich zersplittert: Er gehörte zum Herzogtum Anhalt, zum Herzogtum Braunschweig oder zu Preußen. Wie sich diese Aufteilung auf das tägliche Leben zu dieser Zeit auswirkte, wäre eine interessante Frage – das hebe ich mir mal auf, es sollte darüber sicher Bücher oder Unterlagen geben.
Auszüge aus Griebens Harzführer
Aber jetzt zu Griebens Reise-Bibliothek. Wie beliebt der Harz 1890 war, zeigt sein Platz in besagter Bibliothek: „Der Harz“ ist der zweite von damals 84 Bänden (der erste Band war „Deutschland“ , der nächste behandelt „Thüringen“). Keine Grieben-Reiseführer erreichte eine höhere Auflage als das Harz-Buch; 1890 erschien bereits die 22. Auflage mit einem Umfang von 182 Seiten.
Ein paar Auszüge:
„Kosten. Der anspruchslose Harzreisende wird im Harz etwa täglich 9 M. gebrauchen. Freilich kann man hierbei nicht mittags und abends in Hotels ersten Ranges speisen und dazu teure Weine auswählen; wer dies thut, wird sich mit 9 M. kaum beköstigen können und leicht das Doppelte ausgeben. Logis und Service kostet für 2 Personen 4 bis 6 M., Portion Kaffee im Brötchen und Butter 75 Pf., ½ Flasche Tischwein 1 M. 25 Pf., 1 Butterbrot mit Harzkäse 30 Pf., 1 Glas Bier 15 bis 30 Pf.“
„Eisenbahnen. Der Gebirgsbahnen im Harz werden nun allmählich so viele, und sie sind so geschickt in Verbindung mit Omnibusfahrten gebracht, dass das Bereisen des Gebirges auch für weniger kräftige Personen möglich ist. Jüngere und kräftige Touristen werden auf lohnenden Strecken die Fusswanderung vorziehen.“
„Die Bekleidung des Reisenden sei so luftig, als er es eben vertragen kann, an den Beinen nirgends eng, damit durch die Bewegung keine Reibung und keine Wundheit entstehen kann, die Stiefel müssen Doppelsohlen haben und bequem sein, Gegen Wundlaufen: Schelchers balsamisches Salicylsäuretalg, Schachtel 30 resp. 60 Pf., in jeder Droguenhandlung. Durchaus empfehlenswert ist, ein wollenes Hemd zu tragen, um sich vor Erkältung zu schützen.“
„Reiseregeln. Dem Fusswanderer erschliessen sich die köstlichsten Schätze des Gebirges, und nur ihm wird das behagliche Gefühl zu teil, welches sich nach wackerem Tagesmarsche einstellt und durch nichts anderes auf der Reise aufgewogen wird. Diese Ermunterung gilt auch für Damen, die im allgemeinen besser zu Fuss sind, als sie sich selbst zugetraut haben.“
Großartig. Das klingt wirklich alles nach guter alter Zeit (die sie damals bekanntlich nicht war). Irgendwie rührend.
Was noch auffällt: Die Harzreisen damals gingen offensichtlich über die heutigen Wochenendtrips weit hinaus. Von Goslar aus wird in Griebens Reiseführer etwa eine zwölftägige Tour vorgeschlagen, von Quedlinburg aus ist eine Zehntagestour im Angebot. Heute undenkbar.
Die Tageswanderungen klingen alle so, als ob man sie heute noch genauso gehen könnte. Ich werde das ausprobieren und mal eine Strecke versuchsweise mit diesem Uralt-Reiseführer bei Gelegenheit ausprobieren.
Griebens Reiseführer waren übrigens lange eine Institution. Wikipedia schreibt:
„Theobald Grieben (1826–1914) gründete 1853 in Berlin den nach ihm benannten Verlag, dem er die aus dem Verlag von F. H. Morin übernommene Reiseliteratur zugrunde legte. Die zunächst als Griebens Reise-Bibliothek bezeichnete Sammlung war durch ihre Zuverlässigkeit in Deutschland schnell bekannt, wurde beliebt und zu einem der wichtigsten Konkurrenten des Baedeker-Reiseführers. Im Unterschied zum Baedeker waren Grieben Reiseführer schon ab der Jahrhundertwende mit fotografischen Abbildungen ausgestattet.
Dabei lag der Hauptschwerpunkt auf praktischen Reisehinweisen und dem Bestreben, den Reisenden vorurteilslos zu führen. Die Reihe wurde in den 1970er Jahren auf über 250 Titel erweitert. Zuletzt erschien 1992 der Band Deutschland-Ost. Die neuen Bundesländer mit Metropole Berlin, womit die Reihe eingestellt wurde.“
Der Charme der Hotel-Anzeigen
Zum Schluss noch ein Blick auf die Hotel-Anzeigen am Ende des Reiseführers. Die sind auf rosa Papier gedruckt und bestechen durch ganz eigene, fast lyrischen Selbstbeschreibungen und Anpreisungen. Da werden „gute, sorgfältige Verpflegung, hohe, luftige Zimmer und große Betten“ angeboten, „herrliche Rundsicht, würziger Tannenduft“ sowie ein „hocheleganter Speisesaal“ kommen dazu. Das Wernigeröder Hotel Weißer Hirsch (das es heute noch gibt) bietet „Logis incl. Licht und Bedienung“ an, das Hotel Wolfsburg in Thale weist auf eine „prachtvolle Promenade zum Kriegerdenkmal“ hin.
Ich würde sofort einchecken. Schon allein wegen „Licht und Bedienung“.
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Vergangene Woche gab es einen Ausflug mit den Eisperlen zum Ditfurter See.
Davor ging es um Heinrich Heine und seine Harzreise.
Hier war ich auf Wandertour im Selketal.
Davor habe ich mir einen Besuch im Restaurant 20zwanzig in Stolberg gegönnt.
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Auf Instagram findet der Harzletter auch statt: www.instagram.com/harzletter.de/