Harzletter, der Einhundertvierundvierzigste.
Nach den Sommerausflügen zu den schönsten Badeseen im Harz wird es diesmal literarisch: Wir begeben uns auf die Spuren von Theodor Fontane, seinem weniger bekannten Roman „Cécile“ – und einem ganz besonderen historischen Ort: dem ehemaligen Hotel Zehnpfund in Thale.


Fontanes Harz-Roman „Cécile“: Ein Klassiker mit lokalem Bezug
Dass „Cécile“ teilweise im Harz spielt – genauer gesagt in Quedlinburg, Altenbrak und Thale – war mir schon länger bekannt. Doch der Zugang zu Fontane war bisher eher kompliziert. Die sehr preußischen Geschichten, das 19. Jahrhundert, die tragischen Frauengestalten wie Effi Briest, waren mehr Schulpflichtlektüre als Leseerlebnis.
Dann fiel mir durch Zufall das Buch „Literaturreisen – Mit Fontane durch die Mark Brandenburg und den Harz“ von Jürgen Wolff in die Hände. Darin beschreibt Wolff drei Harz-Wandertouren entlang der Schauplätze von „Cécile“ – und damit erwachte die Neugier. Denn das ist zum einen schön und angenehm zu lesen – schreiben kann er, der Fontane – zum andern vergleicht man unwillkürlich, was aus den Beschreibungen heute noch übrig geblieben ist (Das Buch erschien 1887).
Thale als literarischer Ort: Das Hotel Zehnpfund
Ein Ort fiel mir besonders ins Auge: das Hotel Zehnpfund in Thale. Fontane selbst wohnte dort mehrfach und verewigte das Haus in seinem Werk.

Das Zehnpfund war kein gewöhnliches Hotel – es galt im 19. Jahrhundert als eines der größten und vornehmsten Hotels Deutschlands. Eröffnet 1863, ein Jahr nach dem Eisenbahnanschluss Thales, wurde es schnell zum Anlaufpunkt der gehobenen Berliner Gesellschaft, die den Harz als Ferienregion entdeckte.
Bei Fontane liest es sich so:
Wenige Minuten später hielt der Zug in Thale, wo sofort ein Schwarm von Kutschern und Hausdienern aller Art die Coupés umdrängte: »›Hubertusbad‹! ›Waldkater‹! ›Zehnpfund‹!«
»Zehnpfund«, wiederholte der Oberst, und einem dienstfertig zuspringenden Kommissionär den Gepäckschein einhändigend, bot er Cécile den Arm und schritt auf das unmittelbar am Bahnhof gelegene Hotel zu.
Und weiter:
Der große Balkon von ›Hotel Zehnpfund‹ war am andern Morgen kaum zur Hälfte besetzt, und nur ein Dutzend Personen etwa sah auf das vor ihnen ausgebreitete Landschaftsbild, das durch die Feueressen und Rauchsäulen einer benachbarten Fabrik nicht allzuviel an seinem Reize verlor. Denn die Brise, die ging, kam von der Ebene her und trieb den dicken Qualm am Gebirge hin. In die Stille, die herrschte, mischte sich, außer dem Rauschen der Bode, nur noch ein fernes Stampfen und Klappern und ganz in der Nähe das Zwitschern einiger Schwalben, die, im Zickzack vorüberschießend, auf eine vor dem Balkon gelegene Parkwiese zuflogen.
Mit rund 120 Zimmern war das Zehnpfund ein Symbol für den Wandel Thales vom Industriestandort zum Tourismusziel. Bauherr war die Magdeburg-Halberstädter Eisenbahngesellschaft.
Vom Grandhotel zum Spekulationsobjekt: Der Verfall des Zehnpfund
Der Glanz vergangener Zeiten hielt nicht ewig. Im Ersten Weltkrieg wurde das Hotel zum Lazarett, später diente es verschiedenen Zwecken: Waisenhaus, Krankenkassenverwaltung, Rathaus, Stadtbibliothek. Zur Wende war das einstige Vorzeigehaus ein Sanierungsfall.
Natürlich gab es Begehrlichkeiten und große Pläne. Ein neues Luxushotel sollte entstehen, es gab mehrere Anläufe, das alte, ursprüngliche Zehnpfund wieder aufleben zu lassen. Aus all diesen hochfliegenden Projekten wurde nichts. Jahrelang stand das Gebäude leer, wurde zum Lost-Place-Objekt. Im Internet finden sich noch Seiten, die den morbiden Charme des langsamen Verfalls zeigen.

2016 wurde das Gebäude der Azurit-Gruppe verkauft, die in ganz Deutschland Seniorenzentren betreibt. Seitdem wird es aufwendig restauriert. Große Teile mussten neu errichtet werden, äußerlich aber erinnert das heutige Gebäude wieder stark an die Ansichtskarten um 1900.


Ende 2025 soll das neue Zehnpfund als modernes Seniorenzentrum mit 120 Pflegeplätzen und rund 90 Arbeitsplätzen eröffnen.
Cécile, Fontane und die Harzreise
Zurück zu „Cécile“: Im Mittelpunkt des Romans steht Cécile von St. Arnaud, eine junge Frau, verheiratet mit einem viel älteren Mann. Während eines Urlaubs im Harz entwickelt sich ein spannungsgeladenes Dreiecksverhältnis mit dem jungen Ingenieur Robert von Gordon.
Diese Zwänge und Einschränkungen, die im 19. Jahrhundert vor allem in den bürgerlichen Kreisen vorherrschten, sind heute kaum noch nachvollziehbar. Allein schon die Duelle, weil irgendeine Ehre verletzt wurde. Aber so anachronistisch die großen persönlichen Probleme der damaligen Zeit auch wirken, so unterhaltsam, nachvollziehbar und eindringlich ist die Art, wie Fontane das Geschehen schildert.

Auf den ersten Blick etwas langatmig und ausufernd – es fehlt halt jede Art von „Action“ – auf den zweiten Blick entdeckt man die Abgründe und die Spannungen, die sich nach und nach aufbauen. Das funktioniert auch heute noch, man braucht ein bisschen Geduld und muss sich in Fontanes (aus heutiger Sicht) behäbige Art erst reinfinden.
Besonders eindrucksvoll: Die Beschreibungen von Quedlinburg, die auch nach über 150 Jahren noch erstaunlich zutreffen. Ein Roman wie ein literarischer Reiseführer durch den Harz.
Warum sich Fontanes „Cécile“ heute noch lohnt
Wer den Harz liebt und sich für Geschichte und Literatur interessiert, wird in „Cécile“ zahlreiche Bezüge zu Orten entdecken, die man selbst kennt. Thale, Quedlinburg, Altenbrak – sie werden bei Fontane zu Bühnen einer fein gesponnenen Erzählung, deren Reiz sich erst langsam entfaltet.
Und wer in den kommenden Jahren am frisch restaurierten Zehnpfund vorbeikommt, darf sich ruhig fragen, ob man irgendwo im Foyer vielleicht eine Erinnerung an Theodor Fontane findet. Verdient hätte er sie.
Und hier noch eine kleine Leseprobe zu Quedlinburg:
Von der Stelle, wo man stand, bis zu dem hochgelegenen Stadtteile, der mit Schloß und Kirche das ihm zu Füßen liegende Quedlinburg beherrscht, war nur noch ein kurzer Weg, und ehe man hundert Schritte gemacht hatte, begann bereits die Steigung. Diese selbst war beschwerlich, die malerisch-mittelalterlichen Häuser aber, die, nesterartig, zu beiden Seiten der zur Höhe hinaufführenden Straße klebten, erhielten Cécile bei Mut, und als sie bald danach auf einen von stattlichen Häusern gebildeten und zu weitrer Verschönerung auch noch von alten Nußbäumen überschatteten Platz hinaustrat, kam ihr zu dem Mut auch alle Kraft und gute Laune wieder, die sie gleich zu Beginn des Spazierganges an der Bode hin gehabt hatte.
»Das ist das Klopstock-Haus«, sagte Gordon und zeigte, seine Führerrolle wieder aufnehmend, auf ein etwas zur Seite gelegenes und beinah grasgrün getünchtes Haus mit Säulenvorbau.
»Das Klopstock-Haus?« wiederholte Cécile. »Sagten Sie nicht, es stände… Wie hieß es doch?«
»Im Brühl. Ja, meine gnädigste Frau. Aber da läuft eine kleine Verwechslung mit unter. Was im Brühl steht, das ist das Klopstock-Tempelchen mit der Klopstock-Büste. Dies hier ist das eigentliche Klopstock-Haus, das Haus, darin er geboren wurde. Wie gefällt es Ihnen?«
»Es ist so grün.«
—
Vergangene Woche ging es um zwei Harzer Badeseen.
Hier ging es um die stürmische Premiere des Walpurga-Musicals im Harzer Bergtheater.
Davor war ich bei einer Wanderung über die Bergwiesen bei St. Andreasberg.
Und davor habe ich mir den Blauen See angeschaut.
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