Harzletter, der Siebenundsiebzigste.
Ein Harzletter zur Frauentag! Aber keine Aufregung, ich werde mich hier und jetzt nicht an die andere Hälfte ranschleimen – vielleicht am Ende dieses Letters ein wenig, wenn es wieder um meinen neuen Freund Giovanni Zarrella geht.
Aber erst einmal aufs Rad und Richtung Ballenstedt zum Schlossbahnhof. Der hat nämlich eine ganz eigene, ganz besondere aktuelle Geschichte, woran ein niederländisches Paar Schuld ist. Das hat nämlich den Bahnhof vor rund fünf Jahren gekauft, und seitdem renovieren sie daran herum – mit viel Beachtung durch Presse, Funk und Fernsehen. Vergangenen Herbst war endlich Eröffnung: eine Brasserie, ein Gemeinschaftsraum und zwei Ferienwohnungen stehen jetzt in Ballenstedt für Gäste bereit.
Aber auch, wenn darüber regional und überregional groß berichtet wurde, muss man sich das ja mal selbst ansehen; es liegt zum Glück praktisch um die Ecke.
Die laut Google knapp 14 km Fahrrad-Entfernung nach Ballenstedt sind perfekt für eine kleine Tour, das Wetter passt, kann losgehen. Das Schöne bei solchen Strecken-Vorschlägen: Man kommt auf Wege und in Gegenden, wo man noch nie war. Die besten Abenteuer liegen halt immer noch direkt vor der Haustür.
Der unbekannte Weg nach Ballenstedt
Nach einem ziemlichen Zickzack durch Quedlinburg ging es entlang der Stresemannstraße aus der Stadt raus – und schon bin ich in unbekanntem Gelände. Schrebergärten, die letzten Häuser, dann rechts abbiegen unter dem Autobahn-Zubringer durch. Es geht den Burgweg entlang, der wiederum dem Bicklingsbach folgt.
Namen, die ich noch nie gehört habe. Der Bicklingsbach (ich mag dieses Wort) biegt bald nach rechts Richtung Rieder ab, der Burgweg führt stramm geradeaus und immer gegen den Wind zur Gersdorfer Burg. Von der hatte ich auch noch nichts gehört; sie ist auch eigentlich keine Burg, sondern eine Ansammlung von Wirtschaftsgebäuden. Betreten leider verboten.
Wikipedia informiert:
Die Gersdorfer Burg ist im Quedlinburger Denkmalverzeichnis eingetragen und umfasst eine mittelalterliche Dorfanlage, die bereits im 13. Jahrhundert wüst gefallen ist, eine Burganlage, deren Gründung in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts zurückreicht und jüngere Wirtschaftsgebäude, die seit 1756 als landwirtschaftlicher Betrieb genutzt werden.
Nur ein Turm, der Bergfried, ist von der ursprünglichen Burg übrig geblieben; ich erkenne ihn links von mir durch die Bäume hindurch. Der Weg nach Ballenstedt zieht sich, an einer Feldwegkreuzung wurde auf einer Art Verkehrsinsel dekorativ aber sinnfrei eine Bank aufgestellt, und direkt dahinter hat der Landrat ein Signal gesetzt: Ein Schild, dass auf das Naturdenkmal Langenberg hinweist (Sandsteinhöhenzug mit typischen Trockenrasenpflanzen). Schön, dass wir das jetzt auch wissen.
Und dann taucht auch schon am Horizont eine wohlbekannte Kontur auf: The devil’s wall – wie sie liebevoll von den Freunden der härteren Klänge genannt wird – die Teufelsmauer, vor der genau an dieser Stelle das jährliche Rockharz-Festival auf dem Ballenstedter Flugplatz stattfindet. Es geht erst sanft und dann brutal bergauf, teuflisch eben.
Auf der Rückseite der Felsformation eine Überraschung: ein Weinberg! Harzer Weine kenne ich bisher nur aus Westerhausen, das wäre jetzt eine echte Überraschung. Aber dann, auf den zweiten Blick: Das sind keine Weinstöcke, sondern Obstbäume (vermute ich jedenfalls). Akkurat in Reihen gesetzt, wie ich das bei der Weinlese vergangenes Jahr hier kennengelernt habe. Also doch kein Wein aus Ballenstedt.
Endlich, nach ungefähr 14 Kilometern biege ich in die August-Bebel-Straße ein, und vor mir erscheint: der Schlossbahnhof.
Die Bahnstrecke Frose – Quedlinburg, die hier einst lang führte, wurde 1868 in Betrieb genommen und 2004 stillgelegt, der Bahnhof ebenfalls, die Gleise wurden entfernt. 15 Jahre lang standen die Gebäude leer und rotteten vor sich hin, dann kamen Ingrid und Edward aus den Niederlanden und dann kam die Wiederbelebung.
Was mich zunächst interessierte, war die Brasserie, die von Donnerstag bis Sonntag geöffnet hat. Gleis 1 heißt sie, und schon beim Eintreten merkt man: Hier hat jemand sehr liebevoll, aufwendig und mit gutem Geschmack einen schönen Treffpunkt in Ballenstedt eingerichtet. Der Charakter des ehemaligen Bahnhofs blieb erhalten – war das mal der Wartesaal? – die Fenster, die Balkenkonstruktion an der Decke, dazu kamen schlichte Kaffeehaus-Tische und Stühle, ein paar Sessel, Industrieleuchten an der Decke, ein gekachelter Tresen, ein paar Grünpflanzen. Spontanes Wohlfühl-Gefühl.
Das steigert sich, als ich die Karte sehe. Unter anderem: Bitterballen (5 Euro), Holländische Frikandellen (3,5 Euro), der Holländer Hamburger (10 Euro), 2 holländische Rinderkroketten (7 Euro). Hier ist ganz offensichtlich eine holländische Enklave zu sehr überschaubaren Preisen entstanden. Ich entscheide mich für einen Salat mit warmen Ziegenkäse von der Tageskarte – großartig; genau wie der Kaffee hinterher.
Und ich bin nicht der Einzige, dem das auffällt. Der Raum ist gut gefüllt, Ballenstedt nimmt so ein Angebot für eine kleine Auszeit am Nachmittag offensichtlich gern an.
Ich sehe mich ein bisschen um – an vielen Ecken merkt man, wie gekonnt im Detail hier restauriert wird. Und vieles, was mit dem alten Zweck als Bahnhof zu tun hat, wurde aufgehoben: Schilder die auf Fahrtziele hinweisen, Regale, auf denen alte Koffer gestapelt werden.
Ingrid, Mit-Eigentümerin des Schlossbahnhofs, erzählt, wieviel Arbeit (und wohl auch Geld) in dieses Objekt bisher gesteckt wurde. „Und wir sind noch lange nicht fertig.“
Zwei Ferienwohnungen gibt es, und einen Gemeinschaftsraum, wo bereits regelmäßig kulturelle Veranstaltungen stattfinden.
Der Fürstenbahnhof als Ferienwohnung
Und dann ist da noch ein Highlight, an dem gerade heftig gearbeitet wird: Der Fürstenbahnhof, der zu einer Luxus-Ferienwohnung restauriert und eingerichtet wird.
Fürstenbahnhof? Ja genau – die Herzöge von Anhalt, deren Schloss Ballenstedt ganz in der Nähe liegt (deswegen heißt der Schlossbahnhof ja Schlossbahnhof), reisten ganz fortschrittlich damals ebenfalls mit der Bahn. Sie muteten sich allerdings nicht zu, mit dem gemeinen Pöbel gemeinsam auf den Zug warten zu müssen, sondern ließen sich rechts neben dem Bahnhof ihren eigenen kleinen Wartesaal hinstellen. Doch was heißt hier Wartesaal? Das ist ein Schlösschen im Miniaturformat – wunderschön ausgestaltet und ausgestattet. Über das Innenleben und die Restaurationsarbeiten gibt es reichlich Fotos auf der Schlossbahnhofs-Webseite. Anschauen lohnt sich.
Und so ganz nebenbei: Das ist mal ein Status-Symbol. Heutzutage kaufen sich die Reichen und Wichtigen dicke Autos oder (wenn das Geld reicht) dicke Yachten. Oder fliegen mit Hubschraubern rum. Dagegen ein eigener kleiner Bahnhof, das hat wirklich Stil – sicher ein wenig dekadent, aber mit Klasse. Und heute wird eine Luxus-Ferienwohnung daraus, ab dem 1. April buchbar für 200 Euro aufwärts pro Nacht.
Ich bin beeindruckt – und radele dann den selben Weg wieder zurück, zum Glück ging’s jetzt meistens bergab.
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Mein kleiner Hinweis vergangene Woche auf den Open-Air-Auftritt von Giovanni Zarrella am 17. August auf dem Quedlinburger Marktplatz führte zu einigen Nachfragen. Ja, ich werde mir den Italo-Cantore anhören und -sehen, auch wenn die Tickets mit 67,50 Euro kein Schnapper sind.
Auch nach der Übersetzung des geposteten Liedtextes wurde ausdrücklich gefragt.
Also bitte:
„E allora prendi e vai
Sei grande e puoi provare
Non fa paura il mare
E adesso sai volare“
„Also schnapp es Dir und los geht’s
Du bist großartig und kannst es versuchen
Das Meer ist nicht beängstigend
Und jetzt weißt du, wie man fliegt.“
Sag ich doch: Herz und Schmerz und zu viel Fantasie – Italiener halt.
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Vergangene Woche war ich im Luftfahrtmuseum Wernigerode.
Das Faschings-Eisbaden in Hasselfelde gibt es hier zu besichtigen.
Davor besuchten wir das Gleimhaus in Halberstadt.
Und hier geht es zurück auf die Startseite.
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Auf Instagram findet der Harzletter übrigens auch statt: www.instagram.com/harzletter.de/