Harzletter, der Einhunderteinundvierzigste.
St. Andreasberg ist schön. Vor kurzem lief im NDR ein Beitrag mit dem Titel „Heimat Harz: Wer stoppt den Niedergang?“. Darin wurden reichlich deprimierende Ecken aus dem Westharz gezeigt. Vieles davon aus St. Andreasberg. Klar, das stimmt so. Wenn man durch die Stadtmitte geht, sieht man auch heruntergekommene Häuser, geschlossene Geschäfte, zugesperrte Hotels. Und auch die Statistik ist nicht günstig: 1960 lebten dort über 4000 Menschen, zur Jahrtausendwende waren es rund 2000. Ende 2024 gab es in St. Andreasberg noch rund 1400 Einwohner.

Aber trotzdem. Die Stadt liegt in einer wunderbaren hügeligen Landschaft, die Bergbau-Vergangenheit ist überall greifbar und wird hochgehalten, die alten Bergarbeiter-Häuschen haben Charme und sind gepflegt.

Ich bin dort eher zufällig gelandet; „Vom Naturschatz zum Naturschutz“ heißt eine Führung angeboten durch den Nationalpark Harz, genauer: durch Corinna Jahr. Die ist Nationalpark-Guide – oder offiziell: zertifizierte Natur- und Landschaftsführerin – und leitet diese Wanderung rund um St. Andreasberg.
Aus der Ankündigung: „Nationalpark-Guide Corinna Jahr (ent-)führt uns in die bergbauliche Geschichte des Harzes bis in die Neuzeit. Wir entdecken Spuren des Waldwandels und erleben das Weltkulturerbe Oberharzer Wasserwirtschaft. Blühende Bergwiesen laden nicht nur zum Verweilen ein, sondern wir erfahren auch Wissenswertes über deren Bedeutung, damals und heute.“

Und weil ich viel zu früh in St. Andreasberg ankomme, sehe ich mir noch eines der merkwürdigsten Museen überhaupt an: Das Harzer-Roller-Museum. Wer jetzt an Käse denkt, liegt leider falsch, denn „Harzer Roller“ ist nicht nur eine eher streng riechende und schmeckende Spezialität, sondern auch der Name für eine Kanarienvogel-Züchtung aus dem Harz.
Dazu muss man wissen, dass Kanarienvögel früher eine Art Lebensversicherung für die Bergmänner waren. Jeder, der Untertage arbeitete, hatte seinen persönlichen Vogel dabei. Die reagierten auf mangelnden Sauerstoff und auf Gase wie Kohlenmonoxid früher als andere Tiere und viel früher als der Mensch. Platt gesagt: Wenn der Kanarienvogel aufhörte zu singen, war Gefahr im Verzug, und höchste Zeit, den Stollen zu verlassen.

Das kleine Museum (Eintritt 3 Euro) ist vollgestopft mit Vogelkäfigen, Pokalen, Fotografien und Dokumenten und genauso sehenswert wie überschaubar. Man erfährt viel über die Bedeutung der Vögel vor allem im 19. Jahrhundert. Denn die Bergleute züchteten und trainierten im Nebenerwerb die Vögel. Zu dieser Zeit galten Harzer Roller – der Name entstand nach dem rollenden Gesang – als weltweiter Exportschlager. Die Exemplare aus St. Andreasberg hatten dabei einen besonders guten Ruf und brachten den Bergleuten willkommene Extra-Einnahmen.




Jetzt aber zu dem Treffpunkt auf einem Parkplatz etwas außerhalb von St. Andreasberg. Corinna Jahr wartet bereits. Ein paar einführende Worte und dann geht es gleich los Richtung Sonnenberger Graben. Diese Gräben, die am Wegesrand meist sehr unscheinbar wirken, sind kilometerlang, von Menschenhand angelegt und versorgten die Bergwerke mit dem dringend benötigtem Wasser. Denn die Energie, die in den Stollen und Schächten benötigt wurde, wurde allein durch Wasserkraft erzeugt. Deshalb auch die vielen künstliche Seen und Teiche. Und eben die Gräben, die sich nach Schätzungen insgesamt über rund 500 Kilometer durch den Harz ziehen. Sie sind meist mit Granit eingefasst. Das Wasser musste permanent bereit stehen.

Corinna Jahr erklärt beim Laufen die Zusammenhänge, weist auf besondere Stellen hin und spricht viel und enthusiastisch über die Bedeutung des Nationalparks für die Natur und die Region allgemein.

Hier wächst alles wie es eben wächst, der Mensch greift möglichst überhaupt nicht ein. Egal ob der Borkenkäfer die Fichtenbestände vernichtet, oder Totholz vermeintlich die Waldbrandgefahr steigert. Corinna Jahr zeigt auf das nachwachsende Grün: „Hier entsteht ganz von allein ein widerstandsfähiger Mischwald.“
Zu den Bergwiesen rund um St. Andreasberg
Unser Guide ist im Hauptberuf Gewerkschaftssekretärin bei Verdi. Die Arbeit im Nationalpark läuft nebenbei und ehrenamtlich. Sie erzählt: „Ich bin hier schon immer gern gewandert. Irgendwann kam die Möglichkeit, mich als Natur- und Landschaftsführerin ausbilden zu lassen. Da musste ich nicht lange überlegen.“ Diese Ausbildung, erzählt sie, sei kein Spaziergang. Sie erstrecke sich über ein Jahr und am Ende stünden schriftliche, mündliche und praktische Prüfungen. Und was lernt man da? Corinna Jahr: „Man muss sich in der Natur und in der Geschichte des Nationalparks auskennen. Man muss Zusammenhänge erklären und natürlich mit Menschen umgehen können.“

Während wir uns so unterhalten und austauschen, sind wir am Rehberger Graben entlang gelaufen und erreichen die erste der Bergwiesen, die Corinna Jahr besonders am Herz liegen. Denn diese Wiesen, die auf den ersten Blick eher unspektakulär aussehen, sind – so lernen wir – Schwerpunkte der Artenvielfalt. Allein die Menge der Pflanzennamen klingeln in den Ohren: Es gibt den Wald-Storchschnabel, Bärwurz, die Teufelskralle, das Wiesen-Schaumkraut, die Perücken-Flockenblume, die Gemeine Betonie, Wollgräser und die Sibirische Schwertlilie. Über hundert verschiedene Farn- und Blütenpflanzen sind nachgewiesen und locken Insekten und andere Tiere an. Es summt und brummt, denn gerade jetzt bis etwa Ende Juni stehen fast alle Pflanzen in voller Blüte.


Corinna Jahr gerät ins Schwärmen. Sie erklärt, dass auch diese Wiesen durch den Bergbau entstanden sind. Die Bergleute hatten durch die Bergfreiheit das Recht, Heuwiesen anzulegen und ihre Tiere dort grasen zu lassen. Heute müssen die Wiesen regelmäßig gemäht werden, um eine Verbuschung zu verhindern. Falls der Mensch dort nicht eingreifen würde, würde nach und nach dort wieder ein Wald entstehen.
Mit solchen Erläuterungen sieht man die verschiedenen Wiesen mit ganz anderen Augen – vor allem, wenn man sieht, dass je nach Bodenbeschaffenheit dort ganz unterschiedliche Pflanzen gedeihen. Mal blüht es vorwiegend gelb, dann ist ein Violett vorherrschend oder alles ist grüngrau, weil nichts als Wollgras wächst. Und alles zusammen ist einmalig in Norddeutschland, solche Bergwiesen gibt es nur im Harz.
Über die Jordanshöhe kommen wir langsam zurück zu unserem Ausgangspunkt. Hier, von oben, haben wir einen beeindruckenden Blick auf St. Andreasberg und die umliegenden Hügel. Es sieht aus wie im Voralpenland, eigentlich die reine Idylle.

Aber noch steht das Finale aus: Ein Abstecher zu den Dreibrodesteinen. Das sind drei mächtige Granitbrocken, die sehr fotogen übereinandergetürmt sind. Sie heißen so, weil sie ein bisschen wie drei riesige versteinerte Brote wirken – und natürlich gibt es dazu eine passende Harz-Legende.
Nach knapp drei Stunden und gut zehn Kilometern reicht es dann.
Obwohl wir keine anstrengenden Steigungen bewältigen mussten, werden die Beine langsam schwer. Corinna Jahr ist zufrieden: „Ich freue mich, wenn ich ein wenig von meiner Naturbegeisterung vermitteln kann.“ Das konnte sie; die Harzer Bergwiesen, die Wassergräben und der nachwachsende Wald im Nationalpark werden im Gedächtnis bleiben.
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Vergangene Woche ging es zum Anbaden in den Ditfurter See.
Davor habe ich mir den Blauen See angeschaut.
Hier habe ich aus Anlass des Kriegsendes vor 80 Jahren ein paar Friedhöfe der Umgebung besucht.
Davor war ich mit dem Motorrad von Mansfeld nach Seesen unterwegs.
Hier ging es um die Harzquerung von Wernigerode nach Nordhausen.
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