Harzletter, der Vierundachtzigste.
Fangen wir mit etwas uneingeschränkt Positivem an: Das Wetter war perfekt. Fast wolkenloser Himmel, kaum Wind, nicht zu warm und nicht zu kalt. Besser hätte man es sich für die 43ste Harzquerung von Wernigerode nach Nordhausen nicht ausdenken können.
Harzquerung, das sind 53 Kilometer zu Fuß – entweder gewandert oder gelaufen. Inklusive reichlich Höhenmeter. Die Wander-App Komoot warnte: „Schwere Wanderung. Sehr gute Kondition erforderlich. Gute Trittsicherheit, festes Schuhwerk und alpine Erfahrung notwendig.“ Na super.
Worauf habe ich mich da bloß eingelassen? Als die Ausschreibung rauskam, meldete ich mich ohne viel zu überlegen für die lange Strecke bis Nordhausen an. Es wandern ja viele mit, kann doch nicht so schwer sein.
Und dann steht man morgens gegen halb fünf in totaler Dunkelheit, ausgerüstet mit Stirnlampe, Müsliriegel und Wechselsocken am Startband in Wernigerode und überlegt kurz, wer eigentlich diese seltsame Idee hatte. Zum Glück bin ich nicht allein, wir laufen die Harzquerung als Neuner-Gruppe – acht Frauen und ich als einziger Mann.
Es geht sofort stramm bergauf. Drei aus unserer Gruppe legen ein beachtliches Tempo vor, ich beeile mich, hinterher zu kommen. Leicht keuchend kommen wir oben an, das Aufwärmprogramm dieser Harzquerung war schon mal ordentlich. Fast unmerklich kommt die Dämmerung auf, erste Vögel sind zu hören, schön, so hintereinander den Wald zu durchqueren.
Es geht Richtung Armeleuteberg und dann weiter auf die Zillierbachtalsperre zu. Unsere Neunergruppe zieht sich schon etwas auseinander – in unterschiedlichen Konstellationen gibt es viel zu bereden und zu erzählen, man hat ja Zeit. An der Talsperre angekommen ist es schon fast hell, die Stirnlampen sind längst verstaut, Zeit für ein Gruppenselfie.
Was dann folgt, ist spektakulär. Vorbei an Elbingerode laufen wir auf Königshütte zu. Rechts von uns in klarem Licht Brocken und Wurmberg, links erscheint ganz langsam die Sonne. Magisch. Auch wenn genauso klar die trostlosen Baumstümpfe und verschwundenen Wälder zu erkennen sind. „Vor drei Jahren hättest du von hier aus den Brocken nicht sehen können“, meint eine aus der Gruppe, die sich in der Gegend auskennt, „da war hier alles dicht bewaldet.“
Harzquerung: Auch kleine Berge können weh tun
Weiter geht es vorbei an Königshütte, die Bode entlang, Richtung Kapitelsberg. Der ist zwar nur 536 Meter hoch, aber auch die können weh tun. Kurz dahinter ist die zweite Verpflegungsstation eingerichtet, und ich bin dankbar für einen Zwischenstopp mit Cola, Banane, Mandarinen und Schmalzbrot. Überhaupt die Verpflegungsstationen – insgesamt gibt es sieben: Die sind perfekt organisiert, alles, was man sich als müder Wandersmann wünschen kann, ist reichlich vorhanden, es gibt kein Gedrängel, dafür aber reichlich aufmunternde Worte. „Ihr habt fast schon die Hälfte geschafft!“ Manche Aufmunterung kann allerdings auch unbeabsichtigte Wirkung erzielen.
Jetzt trennen sich die Wege. Fünf aus unserer Gruppe gehen den 26-Kilometer-Weg nach Benneckenstein, vier Wagemutige biegen ab auf die Langstrecke. Einen Moment überlege ich, ob – aber gebucht ist schließlich gebucht. Die Trennung verläuft fröhlich, kleinere Befürchtungen werden ausgeblendet.
Hilft ja nichts, weiter geht’s Richtung Trautenstein. Zwischendurch überholen uns einige Wanderer, die später gestartet und fast im Laufschritt unterwegs sind. Wir halten ein zügiges Tempo – für die Harzquerung wird ein Stundenschnitt von viereinhalb Kilometern vorgegeben. Klingt machbar, ist aber angesichts der Bergauf-Passagen kein Spaziergang. Und die richtigen Anstiege sollten erst noch kommen.
Ich lasse mich zwischendurch gern zurückfallen, man will zwischendurch ja auch mal seine Ruhe haben. Und außerdem: Reden kostet zusätzliche Kraft, und die Damen sind alle gut trainiert, während ich allmählich die Kilometer spüre und Knie und Oberschenkel sich bemerkbar machen.
Die Läufer ziehen vorbei
Als wir über die baumlose Hochebene marschieren, entsteht hinten Unruhe. Die ersten Läufer kommen! Gestartet in Wernigerode um 8:30 Uhr haben sie unseren Vorsprung nach knapp 30 Kilometern eingeholt und federn leicht und locker vorbei. Bewundernswert, vor allem, wenn ich später sehe, wie sie die Steigungen und Abstiege genauso locker absolvieren. Naja, nicht alle, nach den führenden 50 folgen genügend, die mit der Strecke ebenfalls mehr oder weniger heftig zu kämpfen haben.
Wir überschreiten ein paar Kilometer später beim HSB-Bahnhof Sophienhof die Landesgrenze Sachsen-Anhalt/Thüringen, und mir wird hinterhältig erzählt, dass man ja auch auf den nächsten Zug warten könne, mit dem komme man auch zum Harzquerungs-Ziel nach Nordhausen. Das ist natürlich indiskutabel, schon aus Gründen der Selbstachtung.
Das gleiche Angebot wiederholt sich ein paar Kilometer später am Bahnhof Netzkater – und wenn ich gewusst hätte, was jetzt folgt, wäre mir jede Frage der Ehre egal gewesen.
Denn es geht bergauf. Richtung Poppenberg, einem Aussichtsgipfel. Nicht ein paar Hundert Meter, sondern gefühlt endlos. Das Gemeine: Man denkt, hinter der nächsten Kurve ist der Gipfel erreicht, es kann nicht mehr höher gehen, und dann geht es höher. Dieses Spiel wiederholt sich fünf, sechs mal, es ist entnervend, es kostet Kraft, es gehen einem unschöne Gedanken durch den Kopf. Irgendwann bin ich doch oben, inzwischen als Allein-Gänger – meine drei übrig gebliebenen Begleiterinnen sind längst weiter, denen bin ich schlicht zu langsam. Ist mir egal, ich will nur noch ankommen.
Irgendwann schalten Kopf und Körper um
Aber gut ein Drittel der Harzquerung liegt noch vor mir, inklusive einiger weiterer Auf- und Abstiege. Keine Kleinigkeit, aber seltsamerweise schalten Kopf und Körper irgendwann irgendwie um: Einfach laufen, Tunnelblick, zwischendurch auch mal ein kurzes Registrieren der Natur und der satten, hellgrünen Laubwälder, ansonsten vorwärts.
In Neustadt kommt die vorletzte Verpflegungsstation, ich frage vorsichtig nach der Reststrecke und werde mit der Auskunft: „Acht Kilometer, nur noch drei Hügel“ vertröstet. Bei dem Wort „Hügel“ werde ich mißtrauisch, zu recht, wie ich wenig später merke. Nach dem zweiten dieser angeblichen Hügel folgt noch eine letzte Station mit dem Schild „Leider nur noch 3,5 Kilometer“. Jetzt kommt sowas wie Euphorie auf. Fast 50 Kilometer absolviert, der Rest ist Schaulaufen, entspanntes Ins-Ziel-Schlendern, mach ich mit links.
Ein letzter Irrtum, denn es liegt noch der letzte der drei Hügel vor mir. Und hier zeigt mir der Harz – oder der Streckenplaner – noch einmal sehr deutlich den Mittelfinger. Es geht hoch, richtig hoch, schön steil und Oberschenkel-zerrend. Möglicherweise ist das in Wirklichkeit ein sanfter Anstieg, aber nach der absolvierten Harzquerungs-Strecke wäre für mich jetzt jede Erhebung eine Steilwand.
Aber auch das geht vorbei, und dann höre ich wirklich schon von Ferne den Sprecher im Zieleinlauf.
Der Rest ist Freude, gemeinsame Euphorie mit meinen drei wartenden Begleiterinnen (Manuela Leisner, Birgit Sturm, Kathleen Bause), Medaille, und viel viel trinken. Die Rückfahrt im Auto geht beschämend schnell. Dafür haben wir also den ganzen Tag gebraucht.
Aber so viel mehr gesehen und erlebt und gelitten. Wunderbar.
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Eine Motorrad-Tour zum Kyffhäuser wird hier beschrieben.
Von dem Beinahe-Sterne-Restaurant Kiku ist hier die Rede.
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Auf Instagram findet der Harzletter übrigens auch statt: www.instagram.com/harzletter.de/