Wie einst Goethe im Dezember 1777 ganz nach oben auf den Brocken

Harzletter, der Einhundertsechzehnte.

Früher, zu Goethes Zeiten, war mehr Schnee. Kälter war es auch. Nur der Wind ist gleich geblieben, er pfeift stürmisch, meist von vorn, aber das ist normal. Schließlich bin ich auf dem Weg zum „windigsten Ort in Deutschland“ – so die Wikipedia-Auskunft. 

116 Goethe Portrait

Es ist Ende November, und es ist ein besonderer Aufstieg von Torfhaus aus hoch auf den Brocken. Denn diesen Weg nahm am 10. Dezember 1777, also vor fast genau 247 Jahren der Meister selbst: Johann Wolfgang Goethe – damals noch ohne „von“ – riskierte damals eine der ersten Besteigungen des Berges im Winter.

Natürlich lässt sich ein Aufstieg im 18. Jahrhundert nicht mit dem eher gemütlichen Weg heutzutage vergleichen. Es gab keine Wanderwege, der Brocken war wildes, unzugängliches Gelände, und niemand wäre auf die Idee gekommen, „einfach so“ ohne handfesten Grund dort hochzusteigen, schon gar nicht im Winter.

116 Goethe forsthaus

Wenn man in Torfhaus von der B4 in den Goetheweg einbiegt, kommt nach ein paar Hundert Metern rechts die Revierförsterei Torfhaus. Fast ein historischer Ort, denn im Forsthaus in Torfhaus erschien Goethe frühmorgens von Altenau kommend und traf dort den Förster Johann Christoph Degen. Der hielt von der Idee des Dichters, ihn auf den Berg zu führen, gar nichts – es war neblig, es war kalt, es lag tiefer Schnee. Schwierige Situation; Goethe stand in der Stube herum, zunehmend verzweifelt, denn sein schöner Brocken-Plan drohte zu scheitern. Doch dann, so schilderte er es später, riss die Sonne auf, der Gipfel wurde sichtbar und Förster Degen willigte ein, ihn zu führen.

Das Forsthaus, in dem sich diese Szene abspielte, brannte 1868 nach einem Blitzeinschlag ab, das jetzige Haus ist also nicht das Original, aber immerhin.

116 goethe schnee

Von tiefen Schnee kann im Augenblick keine Rede sein. Vor etwas mehr als einer Woche gab es den ersten Schnee des Jahres im Harz, wie immer eine jährliche Pflicht-Meldung in der Presse. Inzwischen ist der größtenteils weggetaut, übrig geblieben sind ein paar Reste am Wegesrand. 

Nach drei Stunden stand Goethe auf dem Gipfel

Das war 1777 ganz anders. Der Schnee lag, so Goethe, „eine Elle tief“, teilweise sanken die beiden Wanderer bis zur Hüfte ein und mussten sich ziemlich mühsam den Weg bahnen. Trotzdem waren sie zügig unterwegs, drei Stunden nach dem Aufbruch standen sie auf dem Berg. „Heitrer herrlicher Augenblick, die ganze Welt in Wolken und Nebel und oben alles heiter. Was ist der Mensch, dass du sein gedenkst. Um viere wieder zurück. Beim Förster auf dem Torfhause in Herberge.“ So knapp beschrieb Goethe viel später sein Gipfel-Erlebnis.

116 goethe Stein

Es ist nicht geklärt, welchen Weg Goethe und Förster Degen nach oben nahmen, sehr wahrscheinlich war es nicht der heutige Goetheweg, der durch das Torfhausmoor führt. Den Abbegraben, der diesen Bereich entwässert, gab es damals noch nicht, deswegen wird vermutet, dass die beiden über höher gelegene Stiege und Wege gingen. 

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Heute geht es teilweise über Bohlen am Moor entlang, nach etwa zwei Kilometern passiert man die Landesgrenze von Niedersachsen nach Sachsen-Anhalt. Hier war vor der Wende die Welt zu Ende – eine akkurat schwarz-rot-gold gestrichener Grenzsäule markiert den Übergang. Danach geht es einen ehemaligen Kolonnenweg steil hoch zu den Gleisen der Schmalspurbahn, und von dort ist es ein relativ leichter Weg zum Gipfel hinauf.

116 Goethe Grenze

„Alle Nebel lagen unten, und oben war herrliche Klarheit und heute Nacht bis früh war er im Mondschein sichtbar.“ So schrieb Goethe am Tag danach an seine Geliebte, Charlotte von Stein. Das Erreichen des Brockenplateaus muss für den Dichter überwältigend gewesen sein. Es herrschte klare Sicht, und den Gipfel selbst muss man sich als leere, öde Fläche vorstellen: Nur das winzige Wolkenhäuschen, das heute etwas verloren vor dem Brockenhotel steht, gab es damals schon. Und man kann sich leicht vorstellen, wie Goethe und sein Führer dort saßen und den mitgebrachten Proviant verzehrten.

116 goethe wolkenhaeuschen

Ich habe einen der häufigen Nebeltage erwischt, vermischt mit unangenehmen Regen. Auf dem Gipfel reißen die Wolken zwischendurch auf, aber ein Blick in die Weite der Landschaft: unmöglich. Schemenhaft tauchen ein paar weitere Wanderer auf, der Brocken ist im November und Dezember kein Massenziel.

Ziemlich schnell mache ich mich auf den Rückweg, es wird früh dunkel und hier oben gibt es nichts, das einen länger festhält.

Das war bei Goethe anders. Rund drei Stunden verbrachte er nach eigener Auskunft dort oben, er wird sich mit Sicherheit Teufelskanzel und Hexenaltar angesehen und reichlich Inspirationen und Eindrücke gesammelt haben für die Brockenszene, die er rund 40 Jahre später in Faust I verfasste.

116 goethe brockengipfel

Dann ging es zurück ins Forsthaus, bei tiefer Dunkelheit gelangten die beiden Wanderer dort an. Goethe blieb über Nacht, schrieb die für ihn üblichen abendlichen Briefe und machte sich am nächsten Morgen auf den Rückweg nach Weimar.

Bleibt die Frage: Was veranlasste den 28-jährigen in ganz Europa gefeierten Dichter, der seit zwei Jahren ein ziemlich sorgenfreies Hofleben in Weimar führte, zu diesem Abenteuer? 

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Einfache Antwort: Lebenskrise und Burnout – wobei es den Ausdruck damals noch nicht gab. Goethe war in Weimar weniger Hofdichter, sondern er war stark in die Verwaltung des ziemlich heruntergekommenen Herzogtums eingebunden. Unter anderem war er Verantwortlicher für den Bergbau, was ihn überhaupt in den Harz und in mehrere Bergwerke führte. Schwerer wog, dass im Juni 1777 seine jüngere Schwester Cornelia, mit der er sich eng verbunden fühlte, gestorben war. Die Trauer über ihren frühen Tod hat ihn sein Leben lang begleitet, im Winter 1777 suchte er – verkürzt gesagt – für sich eine Antwort auf die Frage, wie sein Leben weiter verlaufen solle.

Und wie das bei Dichtern so üblich ist, machte er aus seiner Seelenqual ein Gedicht: „Harzreise im Winter“ heißt es und erstaunlicherweise ist darin so gut wie gar nicht vom Harz die Rede.

Es beginnt mit den bekannten wuchtigen Zeilen: 
„Dem Geier gleich,
Der auf schweren Morgenwolken
Mit sanftem Fittich ruhend
Nach Beute schaut,
Schwebe mein Lied.“

Danach wird es ziemlich rätselhaft, und Generationen von Abiturprüflingen quälten sich mühevoll mit dessen Interpretation ab. 

Goethe jedenfalls kehrte nach seinem erfolgreichen Brockenabenteuer beschwingt nach Weimar zurück und stürzte sich wieder in die Arbeit. Bis zur nächsten großen Krise 1786. Da reichte dann ein Brocken-Abenteuer nicht mehr aus – er floh heimlich nach Italien und nahm sich eine Auszeit, die eineinhalb Jahre dauerte. 

Der Brocken und der gesamte Harz beschäftigten ihn ein Leben lang. Wer kennt nicht zumindest ein paar der Schilder: „Hier war Goethe …“

Vergangene Woche war ich bei den Kaffeemännern in Aschersleben.

Davor ging es um den ersten Schnee und das Wetter auf dem Brocken.

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