Harzletter, der Vierundsiebzigste.
Nein, mein Thema heute gehört eigentlich nicht zum Harz. Aber es liegt zumindest nahe dran: Das Gleimhaus in Halberstadt ist ein Muss für Museums- und Literaturfreunde – ich wollte dort schon immer mal vorbeischauen und am Valentinstag habe ich es kurzentschlossen einfach gemacht.
(Wobei mein Ausflug nichts mit Valentin zu tun hat – purer Zufall).
Halberstadt bezeichnet sich selbst als „Tor zum Harz“ und ist immerhin Kreisstadt des Landkreises Harz. Also doch ein bisschen Harz. Laut Wikipedia ist die Stadt bekannt „für seinen bischöflichen Dom … und für die Halberstädter Würstchen“. Schöne Kombination.
Jetzt also Gleimhaus.
Das Besondere dort sind die Portraits. Man betritt die erste Etage des ehemaligen Wohnhauses von Johann Wilhelm Ludwig Gleim und ist völlig überrollt: Da hängen dicht an dicht, in weitgehend gleicher Größe, gleichem einfarbigen dunklen Hintergrund und mit identischem Ausschnitt gemalte Portraits, die einen fast alle anblicken. Das erinnert an eine Freundschaftsliste bei Facebook, wobei die Gemälde im Gleimhaus wesentlich stimmiger sind als die oft wirren Social-Media-Selfies. Rund 130 Persönlichkeiten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts schauen den Besucher an – das ist absolut einzigartig und gibt es so nirgendwo sonst.
Darunter befinden sich einige heute noch bekannte Namen: Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Gottfried Herder, Jean Paul, Johann Joachim Winckelmann sind nur ein paar Beispiele (wer diese ganzen Gottholds, Gottfrieds und Gottliebs nicht kennt: macht nichts – zu ihrer Zeit gehörten sie jedenfalls zu den Großen in Kunst und Literatur).
Ein bisschen sieht das Ganze aus wie ein Kuriositätenkabinett und man fragt sich natürlich, wie kommt jemand bloß darauf, sich so eine Sammlung zuzulegen?
Darauf gibt es im Gleimhaus schöne Hinweise und Erklärungen. Bereits draußen steht auf einer Wandbespannung: „Gleim – Genie der Freundschaft, Netzwerker der Aufklärung“.
Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719 – 1803) kam als studierter Jurist 1747 nach Halberstadt und übernahm dort die Verwaltung des Domstifts. Das war eine verantwortungsvolle und bestens bezahlte Aufgabe, der er 50 Jahre lang nachging. Sein Wohnhaus – das jetzige Gleimhaus – lag direkt neben dem Dom.
Gleims eigentliches Interesse galt der Dichtung. Er schrieb selbst und war zu seiner Zeit damit durchaus erfolgreich und populär – heute sind seine Verse (zu Recht) weitgehend vergessen.
Daneben schloss er Freundschaften und knüpfte Verbindungen, und muss in dieser Hinsicht wirklich ein großes Talent gewesen sein. Er versammelte jede Menge Dichter und Intellektuelle zum „Halberstädter Dichterkreis“.
Unter den Portraits im Gleimhaus sind eine Menge wirklich ausdrucksstarke Gesichter – sehr intensive, teilweise offen, teilweise zurückhaltende Blicke. Und wenn man sich die Frisuren wegdenkt, sind es Menschen, die einem heute auf der Straße begegnen könnten.
Da Gleim es sich leisten konnte, schloss er nicht nur Kontakte, sondern war auch als Mäzen für Künstler und Literaten tätig. Von seinen Freundinnen und Freunden ließ er nach und nach die Portraits anfertigen, um sie in Halberstadt immer um sich herum zu haben. Seine Galerie nannte er den „Tempel der Freundschaft und der Musen“. Der Freundschaftskult, der nicht nur im Gleimhaus zu dieser Zeit entstand, wirkt heute – wenn man die damaligen Briefe liest – kitschig und schwülstig; damals war die neu entdeckte „Empfindsamkeit“ in literarischen Kreisen schwer angesagt.
Da es noch kein Facebook, Whatsapp oder das Telefon gab, waren Briefe der heiße Scheiß. Die Menschen, die die Zeit dafür hatten, schrieben sich praktisch pausenlos – und bewahrten diese Briefe zum Glück auf. Johann Gleim als passionierter Sammler natürlich vorneweg: Zu seinem Nachlass, der im Gleimhaus verwaltet wird, gehören rund 10.000 Briefe, er korrespondierte mit etwa 500 Personen.
Sehr nützlich und im Original zu besichtigen ist der eigens dafür angefertigte Schreibstuhl: Man sitzt bequem, hat vor sich Papier und Tinte, die Oberarme sind abgestützt. Gleim soll zusätzlich das Porträt des jeweiligen Adressaten vor sich auf einer Staffelei hingestellt haben – so war ein Brief für ihn fast wie ein persönliches Gespräch.
Schiller und Goethe hatten übrigens ein distanziertes Verhältnis zu Gleim, seinem Freundschaftskult und seiner Vorstellung von Dichtung; erst nach Gleims Tod würdigte Goethe dessen Leistungen für die Förderung der Literatur.
Noch eine tolle technische Museums-Spielerei im Gleimhaus: Einige der Bilder sprechen auf Wunsch zum Besucher. Man muss laut einen Namen von einer vorgegebenen Liste sagen plus ein Thema (zum Beispiel: „Literatur“) und schon wird ein kurzer passender Text aus einem Brief vorgelesen. Ein wirklich schöner Einfall – man sollte allerdings gerade allein die Bildergalerie besuchen, sonst wirkt es ein bisschen lächerlich, laut etwa den Namen „Klopstock“ in der Raum zu rufen.
Alexander Kluge im Gleimhaus
Und dann gab es noch eine ziemlich spezielle Überraschung. Schon beim Betreten des Gleimhauses hatte ich mich über die vielen Stühle gewundert, die in der Eingangshalle standen. Als ich dorthin von der Bildergalerie zurückkehrte, saßen auf diesen Stühlen zwei Männer, einer mit einem Mikrofon. Als der andere sprach, war an der unverkennbaren Stimme sofort klar: Alexander Kluge, Ehrenbürger von Halberstadt, wurde gerade interviewt.
Der Grund: Später an diesem Tag sollte die von ihm zusammengestellte Ausstellung „Enlightenment (=Aufklärung). Eine Ausstellung für meine Heimatstadt“ eröffnet werden. Zweiter Grund: Er wurde an diesem Tag 92 Jahre alt. Ich schwör, ich wusste davon nichts und stolperte völlig unvorbereitet in die Eröffnungsvorbereitungen.
Im Vorbeigehen – man will ja nicht indiskret sein – wechselten wir ein paar schnelle Worte, der nächste Interviewer wartete schon.
Ein großer Mann, der tolle Filme gemacht und ebensolche Bücher geschrieben hat, unfassbar produktiv, seit 2017 Ehrenbürger seiner Heimatstadt. Er überlebte als 13-Jähriger knapp die Bombardierung Halberstadts – ein Erlebnis, das ihn nachhaltig geprägt hat. Seine Ausstellung (sie läuft bis zum 20. Mai) werde ich mir auf jeden Fall ansehen.
Und sonst in Halberstadt?
Weil ich schon mal da war und noch ein bisschen Zeit hatte, ging ich auch schnell in den Dom (Gotik! Der Wahnsinn!) und in die ehemalige Buchardi Kirche, um ORGAN²/ASLSP, das einzigartige John-Cage-Orgel-Projekt zu erleben. Das langsamste Stück der Welt, das bis zum 4. September 2640 dauern soll. Der nächste Klangwechsel ist am 8. August 2026. Habe ich mir notiert.
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Vergangene Woche habe ich hier die Talsperre Wendefurth besucht.
Und vor dem Karneval in Stiege lief ich Ski in Friedrichsbrunn
Hier waren wir entlang der Bode unterwegs.
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