Harzletter, der Zweiundsiebzigste.
Was für ein Abend!
Karneval in Stiege, Sitzung im ausverkauften Schützenhaus – wer das nie erlebt hat, kennt den Harz nicht wirklich.
Denn: Der Harz ist nicht gerade als Region des verkleideten Frohsinns bekannt. Und wer würde vermuten, dass im Schützenhaus des Paar-Hundert-Einwohner-Ortes Stiege derart die Post abgeht, dass fast jede Büttensitzung im Rheinland Mühe hätte, mitzuhalten. Ich kann das kompetent vergleichen, ich bin im Dunstkreis von Köln mit dem Karneval aufgewachsen und als Kind hinterm Prinzenwagen Kamelle sammelnd hergelaufen.
Aber da die wichtigste Karnevals-Regel „Jeder Jeck ist anders“ lautet, ist es eigentlich Blödsinn, Karneval in Stiege mit dem in und um Köln zu vergleichen (Denn „Jeder Jeck ist anders“ heißt natürlich auch: Jeder darf auf seine Art bekloppt sein). Trotzdem kann man ja immer mal Richtung Rhein rüber schielen; dort wird schließlich die Fastelovend-Benchmark gesetzt.
Wir schalten zum Karneval in Stiege
Jetzt aber zum Schützenhaus in Stiege – hier fand am 02.02. die erste von zwei Büttensitzungen statt; Sonntag kommt der Umzug, eine Woche später folgen noch Rentner- und Kinderfasching.
Im Schützenhaus ist Platz für rund 400 Personen – beide Sitzungen sind seit langem ausverkauft. Wer nicht ortskundig ist, wundert sich, wenn er über einen Feldweg ins scheinbare Nirgendwo geschickt wird. Hier kommt niemand zufällig vorbei. Karneval in Stiege muss man wollen.
Schon beim Ankommen und Platz nehmen wird klar: Das ist eine Insider-Veranstaltung. Jede scheint jeden zu kennen, es geht familiär zu (die Preise sind entsprechend), man freut sich schon, welches Familienmitglied gleich in welcher Gruppe auftreten wird. Ich bin nur dabei, weil mich die Eisperlen aus Hasselfelde großzügig als Gast und kostümiert als Leichtmatrose akzeptiert haben (aber dafür muss man auch im Vorfeld öfter ins Eiswasser eingetaucht sein).
Das Schützenhaus-Umfeld: professionell. Deko, Beleuchtung, Bedienung – alles perfekt beim Karneval in Stiege. Aber wo bitte sind Bühne und Elferrat? Die ganze Halle ist vollgestellt mit Tischen und Bänken, in der Mitte ist eine Art Tanzfläche freigehalten, dahinter hat ein DJ seine umfangreiche Anlage aufgebaut. Ich werde aufgeklärt: Sitzungs-Präsidium samt Vorsitzenden gibt es hier nicht, übrigens auch kein Prinzenpaar. Karneval ohne Prinz und ohne Ihre Lieblichkeit? Shocking!
Dafür sind zwei Moderatorinnen und der Vorsitzende des Faschingsclubs Stiege am Start. Sie führen durch das Programm, beziehungsweise überreichen die obligatorischen Orden.
Ich erhole mich von meinem Schrecken, als beim Einmarsch des Spielmannszugs der „Treue Husar“ erklingt; das kenne ich, das ist ein Klassiker, das könnte so auch am kölschen Alter Markt gespielt werden.
Nach den üblichen Ehrungen, Danksagungen und Ordensüberreichungen geht der Karneval in Stiege richtig los mit der ersten Tanzgruppe. Sieben Nachwuchs-Funkenmariechen zeigen, was sie eingeübt haben, stürmischer Applaus, Rufe nach Zugabe. Die Stimmung schwappt gleich hoch; jeder im Schützenhaus ist wild entschlossen auf einen ausgelassenen Abend.
Und dann geht es wirklich Schlag auf Schlag – es ist erstaunlich, was hier in dem vergleichsweise kleinen Stiege auf die Beine gestellt wird. Büttenreden, weitere Tanzgruppen, Sketch-Einlagen, das legendäre Männer-Ballett – alles dabei.
Erstaunlich auch, dass diese Session angeblich das 386. Jahr des Karnevals in Stiege ist (und das 31. Jahr des Stieger Faschingsclubs). Vor sehr langer Zeit sollen Familien aus dem Rheinland nach Stiege umgesiedelt sein und die heimischen Bräuche mitgebracht haben. Das würde zumindest Einiges erklären.
Die Highlights des Karnevals in Stiege
Hier eine (unvollständige) Aufzählung der Höhepunkte:
Die Sunshine-Girls: Die Tanzgruppe der Jüngsten. Im Glitzerkleidchen und mit konzentrierten und manchmal aufgeregten Mienen boten sie eine tolle Choreografie dar.
Andrea Hübner und Corinna Müller: Zwei Veteraninnen des Stieger Karnenvals, die zuverlässig umwerfende Auftritte abliefern. Diesmal traten sie mit einer „Bauer-sucht-Frau“-Nummer an, bei der die Pointe darin besteht, dass das ersehnte weibliche Wesen sich als aufgetaute Steinzeit-Frau entpuppt – mit entsprechend ruppigen Umgangsformen. Großartige Dialoge, absolut schmerzfreie Selbst-Veralberung; mit der Nummer würden die beiden jede Bühne rocken.
Die Starlight-Girls und Michel: Eine Mädchen-Tanzgruppe mit einem Tänzer. Klasse Choreografie samt akrobatischen Einlagen. Überhaupt wurde bei allen Tanzgruppen deutlich, wieviel Vorbereitung und Übung hinter jedem Auftritt steckt. Karneval ist eine Ganzjahres-Beschäftigung, das Einstudieren der Nummern und das Schneidern der Kostüme sind keine Kleinigkeit. Und es gibt wenige Aktivitäten in einem Ort, die für mehr Zusammenhalt, Gemeinschaft und Spaß sorgen. Vorsitzender Ralf Rode konnte erfreulicherweise verkünden: „Wir haben keine Nachwuchssorgen.“
Bestes Beispiel: Annie und Melissa, die als Fünfjährige völlig unbekümmert auf der Bühne über ihren Stress zuhause mit den Eltern berichteten.
Dann war da noch das Männer-Ballett: Heiß erwartet und schon vor ihrem Auftritt bejubelt. Elf stolze Exemplare der Stieger Männlichkeit wagten sich mit begnadeten Körpern, als orientalische Frauen kostümiert und unter entsprechenden Klängen auf die Bühne. Da wurden die weiblichen Smartphones gezückt, der Saal stand auf Tischen und Bänken, das wollte jede hautnah miterleben. Die elf Helden gaben alles, das Echo war entsprechend. Männer als Frauen verkleidet ist wie Torte ins Gesicht: funktioniert immer.
Danach wurde die Tanzfläche freigegeben und der DJ übernahm. Es wurde voll, es wurde eng, endlich Bewegung. Aber, und hier grämt sich der Kölner in mir: Keine Karnevalslieder. Die kennt der Karneval in Stiege scheinbar nicht. Außer „Viva Colonia“ hat es nichts und niemand über den Rhein geschafft. Keine Bläck Föös, kein Brings, stattdessen: „Hier spricht der Bierkapitän, darf ich bitte mal die Bierbäuche sehn.“ Ok, kann man machen, sorgt auch für eine Art von Frohsinn, ist aber voll Malle und hat mit Karneval eher wenig zu tun.
Aber wenn ich schon mal da bin, schunkele ich auch dazu mit; sieht ja keiner.
Stiege Alaaf! – wir sehen uns hoffentlich nächstes Jahr wieder.
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Vergangene Woche liefen wir Ski in Friedrichsbrunn
Hier waren wir entlang der Bode unterwegs.
Hier wanderten wir zum Bärendenkmal und zur Teufelsmühle.
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